Bindung in Arbeitsumgebungen – Teil 2

Bedürfnis – Begegnung – Beziehung in Organisationswelten

Im zweiten Teil des Beitrags von Hans Dieter Wilms geht es auf der Grundlage des Drei-Welten-Modells der Persönlichkeit darum, wie wir bewusst unsere unterschiedlichen Rollen auf verschienen Bühnen (be-)spielen.

3. Wie wir unsere Rollen bewusst auf verschiedenen Bühnen (be-)spielen

Das Drei-Welten-Modell der Persönlichkeit von Schmid beschreibt drei verschiedene Lebenswelten. In Ergänzung zu Schmid betrachte ich es als ein soziologisches Modell, in dem für jede der Welten spezifische Rollen beschrieben werden, die wir einnehmen (Abb.2, HD Wilms, 2015).
Per Definition beinhaltet jede Rolle grundsätzliche Merkmale wie: Verhalten, Denkweisen, Steuerungslogiken, Wirklichkeitskonstruktionen, Gefühle, Wertvorstellungen und natürlich auch typische Bindungsregeln.

Eine Rolle ist aber nicht gleich Person. Auch wenn ein Zusammenhang zwischen beiden Konzepten besteht, ist Persönlichkeit zuallererst ein psychologisches Konzept. Den Zusammenhang zwischen Rolle und Person darf man sich als die individuelle „Charakteristik“ vorstellen, in der ein Mensch eine bestimmte Rolle einnimmt und darin wirksam wird (personare = hindurch tönen). Die Rolle Faust wurde von Goethe durch den Rollentext beschrieben. Auf den Bühnen der Welt wird die Rolle Faust aber von unterschiedlichen Schauspielern gespielt, die der Rolle natürlich ihre persönliche Note geben. (Ein Faust von Otto Waalkes würde anders aussehen als einer von Bruce Willis).

Das bedeutet somit, dass z.B. in der Privatwelt die Rolle VATER, dargestellt von Herrn Meier, sich individuell unterscheidet von der Art und Weise wie Herr Müller die gleiche Rolle VATER in seiner Familie ausfüllt. Ebenso würden die beiden Herren die gleiche Rolle ABTEILUNGSLEITER (Organisationswelt), ebenfalls in ihrem ganz persönlichen Stil ausfüllen, auch wenn die allgemeine Arbeitsplatzbeschreibung die gleiche wäre.

Ob jemand eine Rolle stimmig einnimmt, lässt sich daran festmachen, dass alle formalen Rollenaspekte (s.o.) in einer zu erwartenden Weise deutlich werden (Rollenkompetenz). Stimmigkeit ist zugleich daran erkennbar, ob jemand seine Rolle authentisch, in Einklang mit seiner Persönlichkeit ausfüllt (mit erforderlicher persönlicher Reife).

Ferner ist zu betonen, dass sich die 3 Rollenwelten auch gegenseitig beeinflussen (ergänzend oder widersprüchlich), was in Coachingprozessen von Führungskräften häufig zu beobachten ist. Ein Manager könnte sich überidentifizieren mit seiner Professionsrolle „Ingenieur“ („konstruieren was technisch maximal möglich ist“) und damit die Verantwortung verletzen, die er zugleich als „Manager“ in seiner Organisationsrolle hat („konstruieren, was sich auch verkaufen lässt“).

Schließlich ist noch die gegenseitige Beeinflussung zwischen Persönlichkeit und Rolle zu nennen. Von einer solchen „Deformation professionelle“ ist zu sprechen, wenn die Prägung einer langjährig eingenommenen Organisationsrolle die privaten Beziehungen überformt (siehe Loriots „Papa ante Portas“: Herr Klose bringt, als pensionierter Logistikmanager, wegen günstigerer Einkaufsbedingungen, gleich eine ganze Palette Senf mit nach Hause).

Auch positive Beeinflussungen sind möglich: Ein erworbener hoher Reifegrad der Persönlichkeit bietet positive Voraussetzungen eine gute Führungskraft zu sein.

Das Drei-Welten-Modell muss außerdem als ein Entwicklungsmodell verstanden werden (Abb.3, HD Wilms, 2015).

In den ersten Lebensjahren lernen wir ausschließlich Rollen und Bindungen in unserer Privatwelt kennen. Zunächst vorsprachlich / körperliche Bindungen, z.B. in unseren ersten Rollen, „Baby und Kleinkind“ in einer Familie. Schon hierbei erfahren wir, dass es in unserem Bindungserleben auch Hierarchien, Regeln und Konsequenzen auf unser Verhalten gibt. Es wird in vielfältiger Weise Einfluss auf uns ausgeübt, und wir entdecken schon vorsprachlich, wie wir selbst Einfluss auf „die da oben“ nehmen können. Wir lernen wie man „folgt“, und wie man „führt“, und Kinder entwickeln schnell Verfahren wie „Mächtige“ für die eigenen Interessen zu manipulieren oder gegeneinander auszuspielen sind (unbewusste Blaupausen für spätere Machtspiele in Organisationen mit Vorgesetzten oder Mitarbeitern).

Nach der Schulzeit, mit Beginn einer Lehre oder eines Studiums betreten wir die Professionswelt, mit ihren typischen Rollen. Wir eignen uns die Standards, Kompetenzen, Logiken, Praktiken und Werte eines Bäckers, Schreiners, Arztes usw. an und schließen die Ausbildungszeit in der Regel mit einem Titel und einer beruflichen Identität ab, die wir in unserem Arbeitsleben weiterentwickeln und differenzieren.

Aus dieser Phase heraus bewegen wir uns dann zu guter Letzt in die Organisationswelt und beginnen ein Berufsleben. Man unterschreibt einen Arbeitsvertrag und ist in seiner ersten Organisationsrolle angekommen, der Rolle des Mitarbeiters der Firma X. Vielleicht wechseln wir im Laufe der Jahre in weitere Organisationsrollen, z.B. Teamleiter, Abteilungsleiter oder gar Vorstand. In neue Organisationsrollen zu wechseln (Karriere machen), heißt immer eine nächste Rolle neu erlernen, weiterentwickeln, differenzieren und emanzipieren zu müssen. Wir sind herausgefordert, unsere Organisationsrollen von Verwechslungen, Trübungen und Programmen früherer Privat- und Professionsrollen zu befreien. Damit haben wir zugleich die Chance, beruflich und persönlich zu wachsen.

4. Wenn wir den Chef mit unserem Vater „verwechseln“

Solche Verwechslungen sind im Berufsalltag häufig zu beobachten. Eine Führungskraft mag vielleicht bei einem Konflikt mit dem Vorgesetzten unbewusst das gleiche Verhalten einsetzen, mit dem sie als Kind gegenüber dem Vater aufgetreten ist, um mit Erstaunen festzustellen, dass es gegenüber dem Chef nicht hilft. Oder ein Vorgesetzter probiert väterliche Langmut gegenüber seinen Mitarbeitern und verzweifelt darüber, dass man ihn in der Chefrolle nicht ernst nimmt.

Als Coach begegnen mir seit Jahren die unterschiedlichsten Arten solcher Trübungen, Skriptanteile, Beeinträchtigungen, Unschärfen oder Verwechslungen. Sehr oft mindern diese Auftreten, Kommunikation, Leistung und Effizienz von Führungskräften oder Mitarbeitenden. Im Einzelfall durchaus bearbeitbar, bleibt es als grundsätzliches Phänomen Bestandteil des Berufslebens eines jeden Menschen. Das heute Erreichte ist immer schon die Baustelle von Morgen. Wir wachsen und entwickeln uns insbesondere entlang von Pleiten, Pech und Pannen. Samuel Beckett bemerkt dazu: „Es geht im Leben darum, immer besser zu  scheitern“.      

5. Wie können solche Verwechslungen erkannt, bearbeitet und vermieden werden?

Firmen unterstützen ihre Mitarbeiter durch Fortbildungen, Workshops oder Coaching darin, in ihren Organisationsrollen erfolgreich zu werden. Auch die Literatur hält eine Fülle von Anleitungen und Kompetenzmodellen bereit. Die wesentliche Voraussetzung, um als Führungskraft Menschen zu erreichen und zu bewegen, sind die Fähigkeit wie Bereitschaft zu authentischer Selbstreflexion und die Akzeptanz von Feedback. Als ehemaliger Personalentwickler unterscheide ich drei Bereiche professioneller Entwicklung (Wilms, 2017): Wissen, Tun und Sein. Vor allem letzteres entsteht durch Selbstreflexion und den Umgang mit Feedback. Anlesen lässt sich das nicht, vielmehr muss man sich einlassen auf einen identitären Entwicklungsprozess, in dem die Frage zu beantworten ist: Wer bin ich, oder wer will ich sein, als Führungskraft bzw. Mitarbeiter.

Das Drei-Welten-Modell ist für mich dabei sehr nützlich, da jede Rolle beschrieben werden kann mit den Aspekten: Selbstverständnis, zugehörige Wirklichkeitskonstruktionen, Werte, Verhalten, Bindungsqualitäten und Beziehungsregeln. Diese Rollen-Identität ist das Ergebnis sowohl bewusster Lernprozesse (horizontale Entwicklung) als auch das Resultat von Enttrübungen inadäquater Inhalte aus anderen Rollenwelten.

Zu guter Letzt muss auch das Einwirken der eigenen Persönlichkeit auf unsere Rollen von einem erforderlichen Reifegrad getragen sein (vertikale Entwicklung).

Der besondere Nutzen der Modelle für Berater oder Führungskräfte zeigt sich zusammengefasst wie folgt:

  1. Die Modelle können sehr gut als ein Diagnoseinstrumente genutzt werden, um Trübungen und nicht taugliche Anteile aus anderen Rollenwelten aufzudecken.
  2. Sie sind geeignet um Wirklichkeitskonstruktionen unterschiedlicher Rollen(welten) zu trennen und zuzuordnen.
  3. Sie lassen Skriptanteile, OK-Positionen und Beziehungsmuster erkennen.
  4. Sie helfen dem Coach bei der Interventionsplanung.
  5. Für den Klienten lassen sich relevante Lern- und Entwicklungsfelder ermitteln.
  6. In Summe tragen sie dazu bei, Rollenklarheit, Rollendifferenzierung und Rollenstabilität zu erlangen.

Literatur

  • Erskine, R. (2002). Relational Needs, EATA Newsletter Nr. 73 (deutsch: Beziehungsbedürfnisse, ZTA 2008, Heft 4, S. 287 – 297)
  • Grawe, K. (1998) Psychologische Therapie. Hogrefe, Göttingen,
  • Maslow, A. (1981). Motivation und Persönlichkeit. Rowohlt, Reinbek
  • Reis, H. & Patrick, B. (1996): Attachment and intimacy: Component processes. In: E. T. Higgins & A. W. Kruglanski (Eds.): Social psychology: Handbook of basic principles (pp. 523–563). New York; Guilford.
  • Ryan,R. & Deci,E. (2017): Self-Determination Theory: Basic Psychological Needs in Motivation, Development, and Wellness. The Guilford Press, New York, London
  • Schmid, B. (2021). Gemeinsam Wirklichkeit gestalten. ISB-Handbuch
  • Wilms, HD., (2012). Drei-Welten-Modell als Rollenmodell. Präs. Workshop auf DGTA-Kongress 2021
  • Wilms, HD., (2014). Drei-Welten-Modell als Entwicklungsmodell. In: Führen, ein unterschätzter Beruf. Präsentation/Vortrag bei Hüttenwerke Krupp-Mannesmann
  • Wilms, HD., (2018). Grundbedürfnisse in Arbeitsbeziehungen. Präsentation bei Professio, Coaching-Ausbildungscurriculum
  • Wilms, HD., (2017). Key Note Speech, GWS-Konferenz 2017

Autor:in

Management-Berater und Lehrtrainer

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