Führung im agilen (Spannungs)umfeld – Teil 1

Ein Seiltanz zwischen Selbstverantwortung und Delegieren

Konzepte des agilen Arbeitens etablieren sich. Führungskräfte müssen schneller und flexibler entscheiden, wie sie aus ihrer Rolle und für anstehende Aufgaben damit umgehen. Grundlage bilden häufig die Anpassung an eine agile Organisation und die Aufforderung, mehr Entscheidungsraum an die Mitarbeiter:innen zu übergeben. Die Umsetzung hat in der Vorstellung des Managements nach Meilenstein-Plan zu erfolgen.
Bei genauerem Hinsehen kommt es im organisationalen Alltag oft ganz anders und insbesondere Führungskräfte sind in ihrem jeweiligen Aufgabenbereich mit der Frage konfrontiert: „Wie setze ich das mit meinem individuellen Team um?“

Zum Thema „Herausforderungen im mobilen und agilen Arbeitsumfeld“, stellt Andreas Hoffmann, Geschäftsführer der Professio GmbH, Fragen an Annabelle von Creytz und Markus Kruming, beide Trainer, Berater und selbst in Führungsposition.

Annabelle, was erlebst Du, welchen Herausforderungen stehen Führungskräfte aktuell, vor allem in einem verteilt und agil arbeitenden Umfeld gegenüber?

Es ist davon abhängig, wie agil das Umfeld ist und wie gut neue Arbeitsformen etabliert sind. Besonders in den Bereichen, wo agiles Arbeiten schon recht weit fortgeschritten ist. Es besteht aber immer die Herausforderung: Wie viel lässt man selbstorganisiert machen? – Wie viel kann man die Teams alleine machen lassen? – Wie weit sind das Team oder die Mitarbeiter in ihren Fähigkeiten?

Meine Erfahrung ist, bezugnehmend zum Beispiel auf das Buch „Selbstorganisation braucht Führung“ (Bori Gloger), dass Führung heute anders gemacht werden muss. Oft neigt man dazu, bei der Selbstorganisation zu denken „Okay, ich lass das jetzt alles die Mitarbeiter machen.“ Aber es ist sehr wichtig, hier Ownership zu verteilen. Man muss überlegen, wie viel Raum lasse ich, der wichtig ist, und wo braucht es Verantwortlichkeiten, um Themen voranzubringen? Wo werde ich möglicherweise auch etwas verlieren, weil ich zu viel Raum gebe oder weil sich vielleicht dann keiner mehr richtig zuständig fühlt. Das ist ein sehr wichtiges Spannungsfeld, auf das man schauen muss.

Wie schaue ich als Führungskraft dort hin? Wie kriege ich das raus? Was brauche ich dazu, um hier eine gute Balance einzustellen?

Ich glaube einfach, dass es wichtig ist zu lernen, mehr situativ zu entscheiden. Es kommt zum Beispiel darauf an, wie komplex das Thema ist. Was brauchst du? Brauchst du Ideen? Musst du die Menschen mitnehmen? Muss es nochmal durchdacht werden? Oder sind es Themen und Aufgaben, die relativ einfach sind und abgearbeitet werden können? Da muss man sehr unterschiedlich drauf schauen. Um was geht es gerade, wenn Sachen einfach mal abgearbeitet werden? Sind es eigentlich Routineprozesse, dann kann ich es auf dem klassischen Weg machen, wie bisher auch.

Wenn ich aber neue Ideen brauche oder cross-funktional arbeite mit unterschiedlichen Abteilungen, dann muss ich den Raum wieder größer machen und dann ordnen und schauen, was da los ist. Dafür braucht es auch so was wie gutes Gespür, um situativ und kurzfristig Entscheidungen zu treffen. Den Menschen muss ich dabei aber immer mitnehmen, deshalb ist die eigene Haltung die Grundlage, die überall gegeben sein muss.

Die Kernfrage ist: Wo machst du den großen Raum auf, um alle einzubinden, um Ideen zu finden? Und wo sag ich einfach: „Komm, das machen einfach einzelne Leute, und die arbeiten es ab. Wichtig ist hier auch, es transparent zu machen und zu signalisieren, dass weiterhin alles möglich ist.

Ich höre, Transparenz ist ein wichtiger Schlüssel in so einer Zusammenarbeit?

Ja, sehr wichtig. Im Idealfall entwickelt sich im Team ein Bewusstsein, ein Mitdenken. Wann mache ich den Raum auf und gehe in die Selbstorganisation und wann nicht? Wann gehe ich auf die klassischen Methoden zurück? Eine effektive Kombination aus dem, was früher auch gelebt worden ist, was heute gelebt werden kann und was noch an Neuem kommen kann. Das ist die große Herausforderung.

Markus, möchtest Du an dieser Stelle etwas ergänzen?

Annabelle hat das Thema Ownership genannt und Verantwortung. Ich glaube, das ist ergänzend dazu, ob wir ein agiles, mobil arbeitendes, ein klassisches oder ein gemischtes Umfeld betrachten. Das ist ein wahnsinnig wichtiges Thema, das Thema „Verantwortung“ und „Ownership übertragen“. Und zwar so zu übertragen, dass es die Anderen auch nehmen können. Das ist ein klassisches Modell des situativen Führens.

Ein relevanter Begriff hierbei ist „Reifegrad des Mitarbeiters“. Ich glaube, das ist ein ganz wichtiger Aspekt für eine Führungskraft, die Situation einzuschätzen. Ab wann braucht es Raum, wie Annabelle sagt, und ab wann braucht es vielleicht einfach mal ein klares Statement, einfach mal eine Aufgabe, die man abarbeitet? Auch mal die Möglichkeit zu sagen: „Okay, jetzt machst du es, wir haben jetzt einen Job zu tun und fertig.“

Und ich glaube, da ist wirklich der Begriff des Reifegrades des Mitarbeiters ein ganz wichtiger. Führungskräfte sollten öfter an dem Thema vorbeikommen, wenn sie eine Aufgabe übergeben, delegieren oder wenn sie auch etwas Komplexeres übergeben wollen. Darüber nachzudenken, wie ist denn der Reifegrad der Mitarbeiter und des Teams? Was braucht das Team von mir als Führungskraft, dass es kompatibel mit der Aufgabe und mit deren Kompetenzspektrum ist, das wir gerade haben?

Ich erlebe oft, dass Führungskräfte diese extra Schleife nicht drehen, aufgrund des Arbeitsdrucks. Ich höre dann: „Ich habe eine Aufgabe, die werfe ich über den Zaun und das wird schon passen.“ Ohne darüber nachzudenken, wem gebe ich es denn gerade? Was hat er für Bedürfnisse und Fähigkeiten, um die Aufgabe gut zu machen? Und dann es ist auch gut, einfach zu delegieren.

Aber der Arbeitsdruck ist oft sehr hoch. Im Führungskräfte Coaching höre ich: „Ja, es stimmt schon, aber ich habe so einen Druck, ich kann mir die Zeit für diese Gedanken gar nicht nehmen. Mir selbst den eigenen Raum nicht geben, darüber nachzudenken, wie diese Dinge interagieren, mit dem Team, mit dem Mitarbeiter.“

Das ist meiner Ansicht nach ein Beispiel eines meiner wesentlichen Kriterien für ein gutes Leadership Training. Dass man den Führungskräften mitgibt, sich selbst den Raum zu geben und diese Schleife zu drehen. Was braucht mein Team gerade in dieser Situation, mit dem Kompetenzspektrum, mit dem Thema, was ich gerade habe? Was braucht es davon von mir als Führungskraft? Das ist eine ganz, ganz zentrale Frage.

Wenn Du vom Thema Reifegrad sprichst, hast Du da bestimmte Modelle oder Namen im Kopf?

Es gibt ein klassisches Führungsmodell „situatives Führen“ von Hersey & Blanchard. Und da geht es genau um solche Dinge. Das ist ein relativ bekanntes und grundlegendes Modell, das ist jetzt gar nichts Neues. Aber es ist ein Modell, das ich sehr gut finde, weil es eines der wenigen ist, das diese situative Komponente mit in das Thema Führung aufnimmt.

Ich beschreibe es so: Als Führungskraft muss ich auf der Klaviatur der Ausführenden spielen können. Ich muss auch mal Coach sein. Ich bin auch mal jemand, der nur delegiert,  der anweist, oder ich muss mal jemand sein, der unterstützt. Zum Repertoire einer Führungskraft gehört, das eher situativ anzuwenden und nicht als generalistisches Führungsmodell. Ist eher ein Modell für sich selbst. Zu sich zu sagen, ich bin nicht immer Coach oder ich bin nicht immer der, der anweist, managt oder solche Dinge. Sondern es anpasst auf die Kompetenz und den Reifegrad des Mitarbeiters und auf die Situation. Das ist ein ganz wichtiger Grundgedanke, der im Thema „Führung“ eine wichtige Rolle spielt. Den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen das Gefühl zu geben, adäquat geführt zu werden, nach deren Bedürfnissen und auch nach den Bedürfnissen der Führungskraft. Das ist eine Qualität und Kompetenz, die eine Führungskraft wirklich braucht. Hört sich einfach an, ist aber wahnsinnig schwierig.

Annabelle, Du hast gerade beim Thema Reifegrad genickt. Was sind für Dich die Kernelemente, um mit dem Thema Reifegrad als Führungskraft umzugehen?

Bezüglich des Themas Reifegrad finde ich das Modell der OK-OK-Haltung aus der Transaktionsanalyse sehr passend und wichtig. Die Haltung, die dahinter steht, kennen sicher ganz viele. Die spannende Frage ist dann immer, wie oft schaffe ich es, sie anzuwenden und kann ich da dran bleiben? Hier liegt die große Herausforderung.

Dabei ist es ebenso wichtig, dass ich auch Raum habe zu reflektieren und zu schauen, was ist hier gerade los? Dadurch bekomme ich auch Reife und bewerte meine Mitarbeiter anders. Dass ich auch den Mitarbeitern einen Entwicklungsprozess zugestehe und eben immer wieder Feedback-Schleifen mache. Das ist eigentlich das Instrument. Also sowohl Feedback zum Arbeitsverhalten, aber eben auch zu schauen oder mitzubekommen, wahrzunehmen, wie es den anderen als Menschen geht und darauf eingehen zu können. Das erfordert Reifegrad. Es erfordert aber auch Mut, und es funktioniert nicht bei allen Systemen. Dann kommt natürlich auch das Thema psychologische Sicherheit zusätzlich mit rein. Ich glaube, wenn psychologische Sicherheit gewährleistet ist, entsteht ein fruchtbares Klima, um reifen zu können. Den Reifegrad weiterzuentwickeln und sich dazu auch Feedback zu geben. Und weil du nach Modellen gefragt hast. Auf die einzelne Person sowie auch auf Teams und auf Organisationen anzuwenden ist das Modell Spiral Dynamics. Hierin wird das Thema anschaulich aufgegriffen. Die unterschiedlichen Entwicklungsstufen sind leicht verständlich dargestellt und sind eine gute Grundlage, auch um mal zu schauen, wo man so steht in der Entwicklung.

Annabelle, Markus, vielen Dank für den Erfahrungsaustausch und Eure Blickwinkel.

Autor:in

Trainerin und Management-Beraterin

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